2.
Der Highway 80 war ein endloses graues Band, das sich durch gras-bedeckte Ebenen und sanfte Hügel zog. Bäume gab es kaum. Julia konnte ihren Blick nicht von der Landschaft lösen. Schon seit einer ganzen Weile durchfuhren sie breite Längstäler und Ortschaften, die so merkwürdige Namen wie Winnemucca oder Battle Mountain trugen. Das nördliche Nevada war ein ungastlicher Landstrich – und doch auf spröde Weise schön. Jedenfalls in Julias Augen.
Hanna hatte die Entscheidung ihrer Tochter, nach Nevada zu fliegen und der Zeremonie beizuwohnen, ohne Widerspruch akzeptiert. Julia wusste, dass es ihre Mutter große Überwindung gekostet haben musste. Doch sie würden nicht lange bleiben. Nach dem Wochenende wollten sie zu Hannas Freundin Kate nach San Francisco weiterreisen, um dort drei Wochen Urlaub zu verbringen.
»Wir brauchen Abstand«, hatte ihre Mutter gesagt. »Urlaub wird uns guttun.«
Aber Julia wusste, dass kein Abstand dieser Welt etwas an ihrem Schmerz ändern würde. Ganz im Gegenteil. Im Kokon ihrer Trauer fühlte sie sich geborgen. Und wenn sie erst auf der Ranch waren, würde endlich jemand da sein, mit dem sie ihren tiefen Kummer teilen konnte.
Sie waren in Frankfurt gestartet, mit Zwischenlandung in Atlanta. Und obwohl Julia ihren Vater in Deutschland in seinem dunklen Grab zurückgelassen hatte, kam es ihr so vor, als würde sie ihm entgegenfliegen. Tief in ihrem Innersten erwachte etwas, das in den vergangenen Jahren geschlafen hatte. Es waren die Stimmen ihrer Ahnen. Julia wollte wissen, was das bedeutete: Indianerin zu sein. Die Vorfahren ihres Vaters waren Sammler und Jäger gewesen. Ihr
Lebensraum, das Große Becken, erstreckte sich von den Gebirgszügen der Sierra Nevada über die Kaskaden Kaliforniens und Oregons im Westen bis zu den Rocky Mountains im Osten. Becken deshalb, weil die Flüsse in diesem Gebiet den Ozean nicht erreichen, sondern sich im Wüstensand verlieren. Newe Sogobia, wie die Shoshoni ihr Land nennen, ist eines der dürrsten und heißesten Gebiete Nordamerikas.
Früher waren die Shoshoni in kleinen Familiengruppen durchs Land gezogen. John hatte Julia erzählt, dass sie große und schlanke Leute waren, scheu, aber von fröhlichem Wesen. Sie hatten sich von Wildpflanzen, Samen und Wurzeln ernährt, hatten Piniennüsse geerntet und Kleintiere gejagt. Die Frauen waren unterwegs pausenlos mit ihren Grabestöcken auf Nahrungssuche gewesen, weshalb die Shoshoni von den Weißen auch verächtlich Diggers genannt wurden – Wühler.
Die Erinnerung an die Gespräche mit ihrem Vater kam mit einem so wilden Schmerz daher, dass Julia tief durchatmen musste, um nicht laut aufzustöhnen. In diesem Augenblick hätte sie gerne gewusst, wie lange es dauern würde, bis es nicht mehr so wehtat.
Unterdessen tauchten am fernen Horizont schneebedeckte Berge auf.
»Die Ruby Mountains«, sagte Hanna und zeigte durch die Windschutzscheibe des Mietwagens nach vorn. »Dort ist der Vertrag von Ruby Valley unterzeichnet worden.«
Julia musste daran denken, was ihr Vater über den Vertrag von Ru-by Valley erzählt hatte, der von der US-Regierung im Jahr 1863 mit den Shoshoni geschlossen worden war. Man hatte den Indianern Schutz vor den Übergriffen weißer Siedler zugesichert und im Gegenzug bekam die US-Regierung das Recht zugesprochen, Bergbausiedlungen zu errichten und Bodenschätze abzubauen.
Alles veränderte sich. Eine Eisenbahnlinie durchzog das Land, Poststationen und Telegrafenleitungen wurden errichtet. John hatte Julia erklärt, dass mit diesem Vertrag kein Land verkauft, sondern ausschließlich Nutzungsrechte erteilt worden waren. Doch hundert Jahre später hatten die Weißen den Vertrag einfach gebrochen und das Land an sich gerissen.
Julia atmete tief durch. Warum hatte er ihr damals nicht die ganze Wahrheit erzählt? Was es mit diesem Vertragsbruch wirklich auf sich hatte; was er heute bedeutete? Warum war es ausgerechnet ihre Mutter gewesen, die ihr vom BML erzählen musste, von den bewaffneten Bundespolizisten und von dem riesigen Schuldenberg, auf dem ihre Großeltern angeblich saßen?
Hanna bog vom Highway auf eine kaum befahrene Landstraße ab. Nach knapp zwanzig Kilometern, die sie durch baumloses Grasland fuhren, erreichten sie schließlich Eldora Valley, eine Siedlung, die größtenteils aus gesichtslosen Billighäusern und kastenförmigen Wohntrailern bestand.
»Das ist der letzte Ort vor der Ranch«, sagte Hanna. »Danach kommt nur noch Wüste.«
Julia erfuhr, dass die Bewohner des Ortes vorwiegend Minenarbeiter waren, die in der nahen Columbus-Goldmine arbeiteten. Eldora Valley hatte ein Postamt, einen Lebensmittelladen, ein modernes Schulgebäude mit grünem Blechdach, eine Polizeistation und es gab jede Menge unbebaute Grundstücke.
Es schien so, als wollte niemand für immer an diesem trostlosen Ort bleiben.
Hanna bog von der Hauptstraße und hielt vor einem flachen Gebäude mit einer Zapfsäule davor. »Sam’s Grocery Store«, las Julia auf dem abgeblätterten Schild. Es war die einzige Tankstelle weit und breit und auch der einzige Lebensmittelladen in der Gegend, wie Hanna erklärte.
Während ihre Mutter tankte, verschwand Julia nach drinnen in den Laden, um auf die Toilette zu gehen. Als sie wieder herauskam, hatte ihre Mutter schon gezahlt und den Laden verlassen. Julia lief ihr hinterher. Doch in der Schwungtür stieß sie mit einem jungen Mann zusammen.
»He, pass doch auf, verdammt noch mal!«, herrschte er sie an und bedachte sie mit einem verärgerten Blick. Er war einen Kopf größer als Julia und trug ein rotes Kopftuch, unter dem kurze Strähnen schwarzen, glatten Haares hervorschauten. Seine Augen wirkten wie schwarze Halbmonde und er hatte ein breites Gesicht mit hohen Wangenknochen.
Der Junge rief Sam, dem Besitzer des Ladens, etwas zu und lief durch die Regalreihen. Es war nicht der erste Indianer, den Julia sah, seit sie in Reno gelandet waren, doch sie konnte ihren Blick nicht von ihm wenden. Dieser Junge war nicht irgendein Indianer – er war ihrem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten.
Julia stürzte nach draußen, wo ihre Mutter mit einem Wischer die Frontscheibe des Leihwagens von toten Insekten säuberte. Ihrem verstörten Blick nach zu urteilen, war es Hanna wie Julia ergangen, als sie den jungen Indianer gesehen hatte.
Ein silberner Zweisitzer mit breiten roten Streifen auf der Kühlerhaube und der Heckklappe stand auf dem kleinen Parkplatz vor dem Laden. Vermutlich gehörte er diesem Jungen, ihrem...Es fiel Julia schwer, den Gedanken zu Ende zu denken.
Sie stieg zu ihrer Mutter in den Wagen und Hanna startete den Motor. Als sie den Wagen wendete, kam der Junge wieder aus dem Laden, zwei Coladosen unter dem Arm. Er steckte sich eine Zigarette an und sah ihnen mit einem so grimmigen Blick hinterher, dass Julia ein kalter Schauer über den Rücken rann.
Eine Schotterpiste führte durch die mit graugrünen Beifußbüschen bewachsene Ebene. Sie fuhren direkt auf eine Bergkette zu, auf deren sanften Kuppen Reste von Schnee lagen, die mit Wolken-schatten gesprenkelt waren. Die Cortez Mountains.
Seit sie die Siedlung verlassen hatten, kam es Julia so vor, als würden sie in ein endloses Nichts fahren, das aus verschiedenen Grüntönen bestand. Die Berge sahen aus, als wären sie von einem Tuch aus olivgrünem Samt überzogen, mit Flecken von dunkelgrünen Büschen. Die Beifußsträucher links und rechts der Straße schimmerten silbrig grün im Sonnenlicht.
Julia war jetzt hellwach und konnte ihre Ankunft kaum erwarten, während ihre Mutter immer schweigsamer und stiller wurde, als würde sie erst in diesem Moment begreifen, worauf sie sich eingelassen hatte.
Nach gut einer halben Stunde machte die Piste einen scharfen Knick nach links und sie fuhren über ein Viehgitter. Julia hielt Ausschau nach der Ranch, doch zunächst entdeckte sie nur einen kleinen Schrottplatz mit ausgedienten Fahrzeugteilen. Auf der gegenüberliegenden Seite, eingezäunt von einem Koppelzaun, reihten sich im Halbrund zwei windschiefe Holzhütten und ein verbeulter rosafarbener Wohnwagen aneinander.
Julia zeigte auf die Hütten. »Was ist das?« Fragend sah sie ihre Mutter an.
»Keine Angst, wir sind noch nicht da. Das ist bloß das Camp«, erklärte Hanna. »Als ich deinen Vater kennenlernte, haben dort Aussteiger und Hippies gewohnt, alles Leute, die deinen Großeltern den Sommer über auf der Ranch geholfen haben.«
»Sieht verlassen aus«, stellte Julia fest.
»Ja, wahrscheinlich kommt keiner mehr.«
Nach zwei weiteren Kilometern erreichten sie die Ranch. Ein Begriff, der Julia jetzt reichlich übertrieben vorkam. Vor ihr lag eine bunte Ansammlung weit verstreut stehender Behausungen, klappriger Fahrzeuge und Landmaschinen. Dazwischen undefinierbare Gerätschaften, die mit Sicherheit schon vor langer Zeit ausgedient hatten. Das Ganze war umfriedet von verschiedenartigen Zäunen und kleinen Gattern mit Wellblechdächern. Hinter einem Koppelzaun grasten ein paar braune und schwarze Rinder.
Hanna fuhr langsam, als wollte sie die Ankunft noch ein wenig hinauszögern. Julia erinnerte sich an das weiße Haus mit den hübschen blauen Fensterrahmen auf den Gemälden ihres Vaters und fragte sich plötzlich, was sie hier eigentlich suchte. Denn was sie sah, entsprach nicht im Entferntesten ihren Vorstellungen, die sie sich all die Jahre gemacht hatte.
Sie kamen an einem alten, von Unkraut umwucherten Wohntrailer vorbei, der mit türkisfarbenem Wellblech verkleidet war. Das Dach hatte jemand mit alten Autoreifen beschwert. Vor dem Trailer standen ein riesiger ausgedienter Kühlschrank und ein altes Sofa mit rotem Kunstlederbezug. Eine grob zusammengezimmerte Treppe führte zum Eingang, der von Wellblechteilen auf einem Holzgerüst überdacht war.
Rechter Hand, ungefähr hundert Meter entfernt, sah Julia im Schatten mächtiger Pappeln eine alte Blockhütte. Daneben blinkte ein silberfarbener Wohnanhänger zwischen Büschen hervor, der Ähnlichkeit mit einem UFO hatte.
Nachdem sie zwei große Sonnenkollektoren passiert hatten, tauchte ein riesiger offener Wellblechschuppen auf. Davor standen ein Traktor mit Frontlader und eine Heuballenpresse. Diverse andere Fahrzeuge, deren rostige Karossen bereits mit dem Boden verwachsen und größtenteils von Unkraut überwuchert waren, bildeten eine Blechinsel auf dem Vorplatz.
Hanna parkte vor einem hüfthohen Drahtzaun, auf dem Wäschestücke zum Trocknen hingen, und sie stiegen aus. Hinter dem Zaun wuchs saftig dunkelgrünes Gras. Unter Pappeln mit niedrigen Kronen duckte sich ein breites, weiß gestrichenes Holzschindelhaus mit einem Teerpappendach.
Julia sah die blaue Tür und die blauen Fensterrahmen. Doch was war mit dem Rest? Sämtliche Fenster hatten keine Scheiben mehr, sondern waren mit durchsichtiger Plastikfolie bespannt. Ein ausgetretener Bretterpfad führte vom Tor zur Haustür, ein weiterer zu einem Klohäuschen, dessen Holztür sperrangelweit offen stand. Es neigte sich gefährlich nach rechts und machte den Eindruck, als würde es jeden Moment zusammenbrechen.
Julia stand da und versuchte zu verarbeiten, was sie sah. Ein bunter Rausch aus Eindrücken, Bildern und zwiespältigen Empfindungen stürzte auf sie ein. Das alles kam ihr merkwürdig unwirklich vor. So, als hätten sie sich verfahren und würden gleich wieder umkehren. Das konnte unmöglich der Ort sein, nach dem ihr Vater sich gesehnt hatte – den er so oft gemalt hatte.
Sie blinzelte, weil die Sonne sie blendete. Jetzt, wo Julia nicht mehr im klimagekühlten Auto saß, merkte sie auch, wie heiß es war. Brütend heiß.
Hanna schob die Hände in die Vordertaschen ihrer Jeans. »Hier hat sich nichts verändert in den letzten sechzehn Jahren«, sagte sie. »Nur dass noch mehr Hütten und Schrottautos dazugekommen sind.«
Ihre Mutter sagte das nicht herablassend. Julia spürte, wie traurig Hanna war, aber offensichtlich auch sehr erleichtert. Sie war es gewesen, die damals auf die Rückkehr nach Deutschland gedrängt hatte. John war aus Liebe zu ihr mitgegangen. Hätte Hanna anders entschieden, wäre Julia an diesem sonderbaren Ort aufgewachsen. Und für einen winzigen Moment fühlte sie so etwas wie Dankbarkeit.
Plötzlich tat es einen dumpfen Schlag in ihrem Rücken und Julia hörte einen Laut, der ihr trotz der Hitze eine Gänsehaut verursachte. Sie erstarrte. Es war ein dunkles Heulen und Wüten aus tiefster Kehle, und sie fragte sich, ob es überhaupt menschlich war.
»Ahrg-ah-a-mah.«
Langsam drehte sie sich um. Auch Hanna starrte in die Richtung, aus der der Krach kam.
Nur ein paar Meter von ihnen entfernt stand ein aufgebockter grüner Pick-up-Truck ohne Räder. Und auf dem Fahrersitz saß ein menschliches Wesen, wie Julia noch keines zuvor gesehen hatte: dunkle Haut, ein länglicher Schädel wie von einem Schraubstock zusammengedrückt, kurzes schwarzes Stoppelhaar und ein offener Mund mit vorstehenden Zähnen. Eine bizarre Grimasse, abstoßend und furchterregend.
Beide Augäpfel waren von einem milchigen Schleier überzogen und diese blinden Augen starrten Julia an. Ein drahtiger Arm mit knotigen Muskeln baumelte zum offenen Fenster hinaus. Die kräftige Hand schlug erneut gegen das Türblech, dass es krachte.
Julia zuckte zusammen. Wieder das tierische Geheul.
»Darf ich vorstellen«, sagte Hanna, »dein Cousin Tommy.«
Nicht ohne einen Schauer der Abscheu starrte Julia auf das Wesen, zu keinem klaren Gedanken fähig. Im selben Augenblick schoss ein brauner Pick-up um die Ecke des großen Schuppens und hielt neben ihrem Leihwagen. Ein alter Mann stieg aus, stämmig und breitschultrig. Er trug klobige Arbeitsschuhe und zerbeulte braune Cordhosen, die von breiten Hosenträgern gehalten wurden. Kräftige braune Arme schauten aus aufgekrempelten Hemdsärmeln hervor. Das kurz geschnittene Haar des Mannes stand silbergrau vom mächtigen Schädel, die dunkle Haut seines Gesichts war die eines Menschen, der ein Leben lang im Freien gearbeitet hat. Um seine Augen zogen sich helle Lachfältchen.
Das war Boyd Temoke, Julias Großvater. Sie kannte ihn von den Fotos, die ihr Vater ihr gezeigt hatte. »Hallo, Hanna«, sagte er und reichte ihrer Mutter die Hand. »Willkommen auf der Ranch.« Dann erschien ein freundliches Lächeln auf seinem dunklen Gesicht. »Und du musst Julia sein, meine Enkeltochter.«
Er sagte das mit unerwarteter Wärme und Julias Anspannung löste sich ein wenig. Ihre Hand verschwand in seiner großen Pranke und sie erwiderte, so gut sie konnte, seinen kräftigen Händedruck. »Hallo, Grandpa«, sagte sie schüchtern. Da nahm Boyd sie fest in die Arme. Der Duft von Heu, Kühen und Motoröl stieg ihr in die Nase, aber auch der eines alten Mannes. Merkwürdigerweise störte es Julia nicht, dass ihr Großvater sie umarmte.
»Willkommen auf der Ranch, Julia. Ich hoffe, Tommy hat euch nicht zu sehr erschreckt. Er hat keinen guten Tag heute. Ada ist am Vormittag in die Stadt gefahren und noch nicht zurück. Tommy vermisst seine Granny, er mag es nicht, wenn sie weg ist. Aber vielleicht hat er ja auch Hunger. Lasst uns ins Haus gehen, damit ich ihn füttern kann.«
Ein alter Mischlingshund mit braun-schwarzem Fell kam schwanzwedelnd auf sie zu.
»Das ist Loui-Loui«, sagte Boyd. »Der ist so alt wie ich.« Er grinste.
Der Hund stupste Julia mit der feuchten Schnauze am Bein und sie streichelte sein langhaariges Fell, das staubig und voller Kletten war. »Hallo Loui-Loui«, sagte sie. »Ich bin Julia.«
Hanna begann die Lebensmittel auszuladen und ins Haus zu tragen. Der alte Mann öffnete die Fahrertür des Trucks und ging in die Knie, damit Tommy die Arme um seinen Hals legen konnte. Huckepack trug er den behinderten Jungen ins Haus.
Erst jetzt sah Julia, dass Tommy hochgezogene knochige Schultern und dünne, verwachsene Beine hatte. Seine Füße, mit denen er niemals Schritte machen würde, glichen verdrehten Klumpen. Tommys ganzer Körper schien unter einer unheimlichen Spannung zu stehen, als ob seine verzerrten Gliedmaßen jeden Augenblick in ihre natürliche Lage schnellen wollten.
Boyd und Hanna verschwanden im Haus. Julia schnappte sich eine Kiste mit Lebensmitteln und lief ihnen hinterher. Im kleinen Flur hinter der Eingangstür standen Müllsäcke und es roch unangenehm nach vollgepinkelten Windeln. Jacken hingen an der Wand und staubige Schuhe standen in einem Holzregal.
Drinnen herrschte diffuses Dämmerlicht, wofür die Plastikfolie vor den Fenstern verantwortlich war. Wohnraum und Küche waren durch einen breiten, offenen Durchgang verbunden. Der alte Mann schaltete in beiden Räumen das Licht an. Es kam aus verstaubten Glühbirnen, die an Kabeln von der Decke baumelten.
In der Küche stand ein uralter gusseiserner Holzherd mit Töpfen und Pfannen darauf. Die Hängeschränke an der Fensterfront und über der Spüle waren aus lackiertem Sperrholz gezimmert und sahen schäbig aus. Teile der Deckenverkleidung hatten sich gelöst und die Isolierung aus gelbgrauen Glasfasermatten hing an einigen Stellen lose herunter. Überall in den Ecken entdeckte Julia klebrige graue Spinnweben.
Vielleicht merkt man das alles nicht mehr, wenn man viele Jahre so lebt, dachte sie voller Unbehagen. Aber was war mit ihrem Vater gewesen? Wie musste er sich gefühlt haben, wenn er hierhergekommen war?
Der alte Mann ließ Tommy auf einen Küchenstuhl gleiten, dessen Vinylbezug mit grauem Klebeband geflickt war.
»Wenn ihr Hunger habt oder Durst«, sagte er, »im Kühlschrank ist etwas zu essen und in der Kanne ist Kool Aid.« Er deutete auf eine alte Plastikkanne mit einer knallroten Flüssigkeit.
Julia hatte Durst und fragte ihren Großvater, wo sie ein Glas finden konnte. Boyd reagierte nicht. Er hatte für Tommy ein Babygläschen mit Bananenbrei geöffnet und fütterte ihn. Tommy sperrte den Schnabel auf wie ein hungriges Vogeljunges. Er rieb sich mit den schmutzigen Händen über die blinden Augen, brabbelte und machte gurgelnde Geräusche, die Julia immer wieder zu ihrem schwerbehinderten Cousin hinsehen ließen. Dabei entdeckte sie auch, dass seine braunen Unterarme von hellen Narben und verkrusteten Bisswunden übersät waren.
Noch einmal fragte sie den alten Mann nach einem Glas.
Da legte Hanna ihr eine Hand auf die Schulter. »Er kann dich nicht hören, Julia. Dein Großvater ist fast taub. Hat Pa dir das nicht erzählt?« Sie öffnete einen der Hängeschränke und reichte Julia ein sauberes Marmeladenglas ohne Deckel. Irritiert sah Julia ihre Mutter an.
Hanna zuckte mit den Achseln. »Hier ist einiges anders, als du es erwartet hast. Nimm es, wie es ist. In ein paar Tagen sind wir wieder weg.«
Der Großvater hatte Tommy fertig gefüttert und der Junge glitt vom Stuhl. Unerwartet flink robbte er mit seinen verkrüppelten Beinen über den abgewetzten Linoleumboden ins Wohnzimmer. Dort bekam er eine neue Windel, dann brachte ihn der alte Mann wieder nach draußen in seinen Pick-up, der offensichtlich Tommys Lieblingsplatz war.
Nachdem sich ihr Monster-Cousin nicht mehr in der Nähe aufhielt, entspannte Julia sich ein wenig. Sie ging ins Wohnzimmer, das mit dunklen Holzmöbeln bestückt war, die mindestens schon hundert Jahre auf dem Buckel hatten. Eine Kommode, eine Anrichte und ein wuchtiger Schrank. Die übrige Einrichtung bestand aus einer durchgesessenen Couch, zwei speckigen Sesseln, einem niedrigen Tisch und einem Fernseher. Die Vorhänge an den Fenstern waren zerschlissen vom Alter und starrten vor Schmutz. Auf dem durchgetretenen Teppich lagen Zeitungsstapel und Kleidungsstücke. Es roch muffig, als wäre wochenlang nicht gelüftet worden.
Doch da hingen diese Fotos an den Wänden, die Julia magisch anzogen und die sie sich der Reihe nach genau ansah. Die sepiafarbenen zuerst: Männer und Frauen in altmodischer Kleidung, mit stoischen Gesichtern. Vermutlich waren das ihre Vorfahren, die stumm auf sie herabsahen.
Julia betrachtete das Hochzeitsfoto ihrer Großeltern und staunte, wie gut der alte Mann einmal ausgesehen hatte. Adas Gesicht hatte etwas Hartes, aber wenn sie lachte, strahlten ihre Augen voller Wärme.
Schließlich die schwarz-weißen Fotos: Ihre Großmutter Ada zusammen mit Robert Redford. Ein anderes mit dem Dalai-Lama. Wow. Ihr Vater hatte also keine Märchen erzählt. Granny Ada war eine Frau, die ziemlich herumkam in der Welt.
Auf den anderen, den bunten Fotos, das mussten weitere Familienmitglieder sein. Julia erkannte ihren Vater. Eines zeigte ihn mit seiner ersten Frau Veola und zwei kleinen, dunkelhäutigen Kindern, einem Mädchen und einem Jungen. Jason und Tracy, ihre Halbgeschwister.
Ein Foto jüngeren Datums zeigte John und Jason. Es musste vor drei oder vier Jahren aufgenommen worden sein, als Jason ungefähr in ihrem jetzigen Alter war. Vater und Sohn standen Seite an Seite, berührten einander aber nicht. Jason blickte grimmig drein und nun wusste Julia ganz sicher, was sie schon die ganze Zeit vermutet hatte: Der Junge in Sams Laden war ihr Halbbruder Jason gewesen.
Es gab auch ein Foto von ihr selbst, zusammen mit ihrem Vater. Julia erinnerte sich noch an den Tag, als es aufgenommen worden war. Damals war sie dreizehn gewesen, hatte mit Babyspeck und Pickeln zu kämpfen gehabt und diese verhasste Zahnspange getragen. Ihr Vater strahlte dennoch voller Stolz. Er stand hinter ihr und hatte beide Arme um sie gelegt. Es war in Italien aufgenommen, während sie zu dritt Urlaub am Meer gemacht hatten.
Das war Erinnerung, war Vergangenheit. Julia kämpfte gegen die Tränen, die in ihr aufstiegen. Alles, was mit ihrem Vater zu tun hatte, würde von nun an Vergangenheit sein. Etwas Abgeschlossenes ohne Zukunft.
Mit dem Handrücken wischte sie die Tränen fort, als sie hörte, dass draußen auf dem Vorplatz ein Auto hielt. Kurz darauf stand ihre Großmutter in der Küche, bepackt mit Einkaufstüten. Ada war kleiner, als Julia sie sich vorgestellt hatte. Ihr widerspenstiges graues Haar hatte sie kurz geschnitten, was zu ihrem ledrigen Gesicht passte. Es war ein hartes Gesicht mit klaren braunen Augen und tiefen Falten um den breiten Mund.
Während Ada Hanna die Hand schüttelte und sie willkommen hieß, beobachtete Julia die alte Frau sehr genau. Es war ein frostiges Willkommen, das sah Julia an der Körperhaltung ihrer Großmutter, die Ablehnung und Misstrauen ausdrückte. Trotzdem gab sie sich einen Ruck und ging auf sie zu. »Hi, Grandma«, sagte sie. »Ich bin Julia.«
Völlig unerwartet riss Ada sie in ihre Arme und Julia war verblüfft darüber, wie kräftig ihre Granny war. Ein tiefer Seufzer kam aus der Brust der alten Frau. Dann schob sie Julia von sich und sagte mit heiserer Raucherstimme: »Du siehst deinem Vater verdammt ähnlich.«
Das stimmte. Julias Haut war zwar nicht so dunkel wie die ihres Vaters, aber sonst hatten sich seine Gene durchgesetzt und sie war froh, ihm zu ähneln. Julia hatte Johns Nase, kurz und mit kräftigen Nasenflügeln, und seine vollen Lippen. Auch die Form seiner Augen hatte sie geerbt: kleine Halbmonde, die äußeren Winkel leicht nach unten gezogen.
Sacajawea, hatte ihr Vater sie immer genannt, Vogelmädchen. Sacajawea, eine junge Shoshoni, hatte 1805 die Expedition von Lewis und Clark begleitet und dafür gesorgt, dass die beiden weißen Forscher auf ihrer Reise nicht verhungert waren. Das Gesicht des Mädchens war auf einer messingfarbenen Dollarmünze abgebildet und John hatte behauptet, die Ähnlichkeit mit Julia wäre unverkennbar.
Von ihrer Mutter hatte sie nur die ungewöhnliche Augenfarbe. Ein bläuliches Grün, wie dunkler Türkis, mit winzigen goldenen Sprenkeln darin.
Ada schob Julia zur Seite und das Mädchen glaubte, Tränen in den Augen ihrer Großmutter zu sehen. Geschäftig verstaute die alte Frau Mitgebrachtes in der Küche, las Zettel, die auf dem Resopaltisch lagen, und plauderte, als wären Hanna und Julia alte Bekannte, die eben mal kurz vorbeigekommen waren. Wie war der Flug? Seid ihr müde? Hungrig? Kann mir mal einer helfen, die Kiste auf den Schrank zu heben?
Julia wusste nicht, ob sie ihre Granny fürchten, sie bewundern, oder Mitleid mit ihr haben sollte. Adas harsches Wesen wirkte einschüchternd auf sie, aber instinktiv spürte Julia, dass unter der harten Schale offene Wunden lagen, die nie verheilt waren.
Schließlich setzte sich Ada, zündete eine Zigarette an und rauchte schweigend, wobei sie ihre weiße Schwiegertochter eindringlich musterte.
»Musste mein Sohn leiden, bevor er starb?«, fragte sie. »Nein. Er war sofort tot.« »Und seine Organe?« Julias Augen weiteten sich vor Entsetzen und sie sah ihre Mutter
fragend an. »John ist als ganzer Mensch begraben worden.« Die alte Frau nickte. »Das ist gut.« Sie drückte die halb aufgerauch
te Zigarette in den Aschenbecher und erhob sich. »Also dann kommt. Ich will euch zeigen, wo ihr schlafen werdet.«